Welche Bedeutung hat der Bildtitel für Kunstwerke
Wer auf die Idee gekommen ist, Bildern, die ja ihrem Wesen nach für sich selbst sprechen, Titel zuzuordnen, ist nicht bekannt.
Auf Vorder- und Rückseiten alter Kunstwerke wurden, meines Wissens, keine Titel aus der Zeit ihrer Entstehung entdeckt. In schriftlichen Überlieferungen wurden Gemälde wohl beschrieben, aber nicht dezidiert mit Titeln benannt. Also scheint die „Betitelung“ sichtbarer Bilder eine Erfindung der Neuzeit zu sein. Der häufigste Bildtitel wird wohl „Stillleben“, gefolgt von „Landschaft“ sein.
Angeblich war es wieder einmal Pablo Picasso. Der nannte 1953 eines seiner Bilder „Ohne Titel“.
Damit war ein Virus in die Welt gesetzt, welcher in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Flanierte man über, die damals noch Seltenen, Kunstmessen, sah man ständig Werke, welche mit „ohne Titel“ betitelt waren. „Ohne Titel“ oder einfacher „o.T.“ wurde nochmals übertroffen, in dem Bilder so oder ähnlich bezeichnet wurden: o.T. (Held), o.T. (Der Mann mit Schuh), o.T. (Ein umgefallenes Glas). Also ohne und doch mit Titel.
Torsten Ueschner hatte bis vor Kurzem auch ein Titel-Problem. Auf meine Frage, wie er seine Bilder bezeichnen wolle, denn alle Werke „Ohne Titel“ zu benennen, sei ein wenig unübersichtlich, stellte er die Frage: „Soll ich die Rapsfelder „Rapsfeld 1,2,3,“ etc. nennen und ie Seestücke auch nummerieren?“
So entschieden wir uns für eine Form, welche einer der wichtigsten Vertreter des Informell, der in Leipzig 1904 geborene und 1989 in Antibes verstorbene Maler Hans Hartung, gewählt hatte.
Also nummeriert Torsten Ueschner seine Bilder seither. Das Prinzip bleibt jedoch sein Geheimnis. Hauptsache es gibt keine Dopplungen. Er versicherte mir, dies könne in Verbindung mit der Jahreszahl ihrer Entstehung ausgeschlossen werden. Damit war das „Titelproblem“ gelöst. Ich hatte Verständnis. Denn auch ich habe, oder hatte, mein Problem mit den Bildbezeichnungen und fand es einigermaßen widersinnig im Titel zu beschreiben, was auf dem Bild zu sehen ist; Aber dazu später mehr.
Die Bildtitel von Horst Kistner haben es in sich. „Dismissed“ zum Beispiel beschreibt sowohl die Fotografie, umschreibt aber auch mit einem einzigen Wort ein Gefühl. Entlassen, ausgegrenzt, einsam und ausgestoßen sind die Übersetzungen dieses Begriffs. Er trifft mit dieser Titelwahl die Stimmung des Bildes, ohne lapidar das Dargestellte zu beschreiben.
Der Begriff „Divine Flowers“ – göttliche Blumen – funktioniert auf eine andere Art. Er untermalt die Darstellung, ohne zu viel zu verraten.
Der Titel soll den Betrachter zu der Bildaussage hinleiten, welche der Künstler beabsichtigt. Aber trotzdem soll er nicht eindeutig sein. Horst Kistner möchte den Betrachter an das Bild fesseln und zum Nachdenken bringen.
Bei anderen Titeln bezieht er sich auf Filme, welche ihn anregten. Oder er beschreibt Zeiträume, die oft rätselhaft bleiben.
Der Titel „Als Hanna einmal Herzklopfen hatte“ ist in vielerlei Hinsicht komplex. Eigentlich schon literarischer Natur.
Denn in diesen wenigen Worten umfasst Horst Kistner eine ganze Geschichte. Es fängt bei der Wahl des Namens an. Wie soll das Kind genannt werden. Petra oder Marie-Luise wäre nicht passend. Horst meint, für ihn sei der Name Hanna nordisch und das Kind sähe eben nordisch aus. Bei Wikipedia nachgeschaut, ist der Name Hanna jedoch hebräischen Ursprungs. Aber die Bildersuche mit Dr. Google ergibt dann den blonden, nordischen Typus. Hanna Alström, eine schwedische Schauspielerin, steht in vorderster Reihe. Das – „einmal Herzklopfen hatte“ – umschreibt zweierlei. Das Kind ist beim Arzt, ist aufgeregt und steht fasziniert vor einem schon antik wirkenden, Blutdruckmessgerät. Bild und Titel sind im wahrsten Sinn des Wortes rührend, ohne jedoch kitschig zu sein.
Bei mir, Thomas Gatzemeier, dem Schreiber dieses Blogbeitrags, hat sich die Titelfindung in den vierzig Jahren des künstlerischen Schaffens und den zahlreichen Werkgruppen mehr oder weniger der Zeit und dem Bild angepasst.
In den 1980er-Jahren verwendete ich gern Zitate. Schon mal von Stalin. Nicht nur, um zu provozieren, sondern auch weil sie passten.
Später blätterte ich in Fremdwörterbüchern, um adäquate Begriffe für die Betitelung zu finden. Levitation zum Beispiel.
Dieses lateinische Wort steht für Leichtigkeit. Beschreibt im weiteren Sinn jedoch das freie Schweben von Objekten. Und nicht zuletzt bin auch ich, vielleicht einer gewissen Faulheit wegen, eine Zeit lang dem o. T. verfallen. Ob dies zukünftige Generationen von Kunsttheoretikern und Kunsttheoretikerinnen zum Verzweifeln bringt, vermag ich nicht zu sagen
Einige Werkgruppen später kam es schon einmal vor, dass ein Bild von mir „Dover“ genannt wurde.
Obwohl das Dargestellte nicht das Geringste mit der gleichnamigen Stadt zu tun hatte, war der Begriff an sich richtig, wenn auch scheinbar nicht passend. Denn das Sofa, auf dem die zwei Damen Platz genommen hatten, wurde vom Hersteller so benannt. Warum ein Sofa Dover genannt wird, ist ebenso unergründlich, wie ein Bild mit gleichem Namen, welches ein Sofa mit zwei Akten zeigt.
Aber es gibt bei mir auch die direkte und sachlich richtige Bezeichnung des Dargestellten.
Für meinen Zyklus „Animal Stilllife“ forschte ich, als an den Formen interessierter Laie und nicht als professioneller Insektologe. Mit Schlankjungfer wurde eine Libelle benannt, welche mir besonders gefiel und die für die Komposition passend war. Wie soll man einen besseren Titel finden?